Bruders Hüter/Bruders Mörder (2007)
Intellektuelle zwischen Analyse und Imagination innergesellschaftlicher Gewalt
Innergesellschaftliche Gewalt ist ein typisches Beispiel für die viel beschworene Janusköpfigkeit der Gegenwart: Das Zusammenwachsen zu einer Weltgemeinschaft hat zur Kehrseite ein Zersplittern der ursprünglichen nationalen Gemeinschaften, was auch als eine Form von glocalization (R. Robertson) angesehen werden kann. Im Zeitalter der europäischen und der globalen Gesellschaft zeigen Ausschreitungen wie die in Paris 2005 und 2006 oder Diskussionen über No go-areas in Deutschland eine Ausbildung von „Gesellschaften in der Gesellschaft“, die ein brisantes Konfliktpotential bergen: das der vom „globalen Diskurs“ Ausgegrenzten.
Die Stunde des Intellektuellen Zola’scher Prägung – Inbegriff einer sich stellvertretend erhebenden Stimme – schiene erneut gekommen, fehlte ihm nicht die epistemologische Basis der 'großen Erzählungen', die dem ausgehenden 19. Jahrhundert noch ungebrochen zueigen war. Zudem stehen Intellektuelle angesichts einer Zunahme "mediatisierter Ereignisse" vor dem Problem, dass ihre Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Konflikten selbst zum Teil des Konfliktes werden.
Im Sinne dieser Fragestellungen hatte die Tagung "Bruders Hüter/Bruders Mörder" zum Ziel, ausgewiesene Vertreter und Vertreterinnen kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung zusammenzuführen. Zentral ist dabei die Frage nach der Funktion von Intellektuellen im lokalen Rahmen wie innerhalb der "Weltgesellschaft", eine Funktion, die sich anhand von Stellungnahmen zu innergesellschaftlichen Gewaltkonflikten ab Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa, Lateinamerika, Asien und Afrika skizzieren lässt. Es sollte gemeinsam herausgearbeitet werden, welche Kommunikationsmittel benutzt, welche Positionen bezogen und welche Sinnzuordnungen nahe gelegt werden, wie auch, wie Gewalt legitimiert bzw. delegitimiert wird. Schließlich galt die Tagung den übergreifenden Fragen danach, wie sich rationale Analyse, Zukunftsentwürfe und Denken von Alternativen, Imagination der Gesellschaft und öffentliche Meinung in Pressetexten, Essays, Fernsehen, Film, Theater, Sachbüchern und Fiktion zueinander verhalten und wie Intellektuelle als Konsequenz ihrer Beobachtung der innergesellschaftlichen Spaltung im Spannungsfeld zwischen Analyse und Imagination "handeln".
Veranstalterinnen: Prof. Dr. Susanne Hartwig und Prof. Dr. Isabella von Treskow
Die Beiträge wurden in dem Sammelband "Bruders Hüter/Bruders Mörder" im Jahr 2010 beim Verlag De Gruyter, Berlin veröffentlicht.
Pressestimmen
Mit Geist gegen die Gewalt vorgehen
Symposion an der Universität Passau über Intellektuelle und Gewalt von 4. bis 6. Mai - Podiumsdiskussion mit PNP-Chefredakteur Hans Schregelmann
Mitten in Deutschland gilt mancher Landstrich für Ausländer als "No-go-area", Politiker und Angehörige der Opfer reden sich derzeit wieder die Köpfe heiß über den angemessenen Umgang mit ehemaligen RAF-Terroristen. Was in der Gewalt-Debatte jedoch selten in die Öffentlichkeit durchdringt, ist die Stimme der Intellektuellen. Wie dieser Mangel zu erklären ist und wie er behoben werden könnte, versucht von Freitag bis Sonntag ein Symposion an der Universität Passau zu klären. Herzstück der Veranstaltung mit dem Titel "Intellektuelle zwischen Analyse und Imagination innergesellschaftlicher Gewalt" ist am Samstag um 20 Uhr eine Podiumsdiskussion in der Lounge der Universitätsbibliothek. Unter dem Motto "Gut, dass wir darüber geredet haben . . . Wollen wir hören, was Intellektuelle zur innergesellschaftlichen Gewalt sagen?" diskutieren der Leipziger Historiker Wolfgang Höpken, der Klagenfurter Journalist Norbert Mappes-Niedik und der Chefredakteur der Passauer Neuen Presse, Hans Schregelmann. Was die Besucher dabei erwartet, erläutert die Initiatorin Prof. Susanne Hartwig vom Lehrstuhl für Romanische Literaturen und Kulturen an der Universität Passau. Frau Prof. Hartwig, vielleicht wollten mehr Menschen hören, was Intellektuelle zu sagen haben - wenn man sie nur besser verstehen könnte. Was zum Beispiel ist "innergesellschaftliche Gewalt"? Susanne Hartwig: Das ist eine Form von Gewalt, die sich innerhalb einer eigentlich homogenen Gruppe bemerkbar macht. Das ist deshalb so schwer zu fassen, weil es nicht mehr das alte Freund-Feind-Schema gibt - die Gruppen, die sich befehden, sind dem gleichen System zuzuordnen. Und das wird eine zentrale Frage sein, ob der Intellektuelle gar nicht mehr den Zugang zu dem sucht, für den er eigentlich sprechen soll. García Márquez versteht auch der einfache Kolumbianer, Chomsky versteht jeder Amerikaner, aber in Deutschland bin ich mir da nicht so sicher. Der Titel der Podiumsdiskussion suggeriert, die Gesellschaft sei taub für reflektierte Gewaltanalyse. Sind wir wirklich so ignorant? Hartwig: Ich glaube, dass das ewige Gerede in unserer Zeit einen Abstumpfungseffekt erzeugt. Deshalb ist eine unserer Leitfragen für die Tagung: Brauchen wir neue Formen von intellektueller Intervention? Könnten Intellektuelle denn verhindern, dass ein Generalbundesanwalt erschossen wird, dass Pariser Vorstädte brennen, dass häusliche Gewalt geschieht?
Hartwig: Wenn sich etwa in Frankreich mal jemand für die Probleme der Vorstädte interessiert und den Menschen eine Stimme verliehen hätte, glaube ich persönlich, dass die Aggressionen in andere Bahnen hätten gelenkt werden können. Auf globaler Ebene denke ich, dass sich eine öffentliche Meinung als Supermacht formieren könnte. Dazu müsste sie sich aber Wege suchen, dass sie nicht absorbiert wird von den ganzen Schönrednern. Das ist auch das Thema, das ich selbst auf der Tagung vorstellen werde.
Was müsste sich verändern in der Vermittlung intellektueller Positionen - etwa in Medien?
Hartwig: Ich glaube nicht, dass Journalismus, der nur den Finger auf die Wunde legt, die Menschen noch großflächig erreicht. Es müsste exemplarisch dargestellt und eine neue Sprache gefunden werden.
Sind intellektuelle Positionen per se vernünftige Positionen?
Hartwig: Gute Frage, aber ich glaube nicht! Ich glaube, der Intellektuelle muss nicht vorgeben, wo wir hinwollen, er muss in erster Linie verstören und der Sand im Getriebe der Welt sein.
Mit welcher Erkenntnis sollten die Besucher das Symposion im Optimalfall verlassen?
Hartwig: Die Tagung soll vor allem vermitteln, dass die Uni für die Gesellschaft da ist, indem sie auch aktuelle Debatten aufgreift - und mit der RAF haben wir ja eine höchst brisante aktuelle Debatte. Und wir wollen bei der Podiumsdiskussion nachdenken, ob wir den Intellektuellen ad acta legen können. Meine These ist: Er ist wichtiger denn je! Nur muss man überlegen, wie er seine Interventionen neu formulieren kann. Es wäre schön, wenn wir damit die resignative Stimmung ein wenig dynamisieren könnten - aber das wäre wirklich ein Optimalziel . . .
Das Gespräch führte Raimund Meisenberger.
Passauer Neue Presse vom 1. Mai 2007