Sektion 2
Christina Bischoff (Paderborn)
Annegret Thiem (Paderborn)
Mystisches Schreiben im Zeichen der Moderne. Lyrische Paradigmen in Lateinamerika
In der lateinamerikanischen Lyrik des 20. und des 21. Jahrhunderts nehmen Vertextungsstrategien der Mystik einen breiten Raum ein. Angesichts der (post-) modernen Krise der poetischen Rede kann diese Konjunktur genuin religiöser Diskursivierungsformen in einem ästhetischen Kontext nicht erstaunen: Versteht man ‚Mystik’ – jenseits einer Vielzahl historisch variabler Definitionen – als ein „Denken des Draußen“ (Foucault), als eine Denk- und Erfahrungsstruktur mithin, die auf eine die Grenzen der Logik sprengende Einheit von Identität und Alterität zielt, so erscheint die Mystik als ein den Forderungen ästhetischer Negativität in besonderer Weise entgegenkommendes Paradigma.
Vielfältig sind die Formen der Anknüpfung der poetischen Rede an die Tradition der Mystik: Die cognitio Dei experimentalis als Denkfigur einer prädiskursiven Alteritätserfahrung; die unio mystica als Anschauungsform poetischer Wirklichkeitsaneignung im Zeichen des Begehrens; die Betonung des Visionären als Modus der Figurierung eines Unfigürlichen; der betont konterdiskursive Gestus der Mystik; nicht zuletzt der Widerspruch zwischen einer Einforderung des Schweigens als paradoxer Artikulationsform eines ineffabile einerseits und einer aus mimetischen Ansprüchen befreiten bildhaften Sprache andererseits: Dies sind einige Aspekte ‚mystischen’ Schreibens, die in der Moderne zu Dispositiven poetologischer, medialer und subjektiv-auktorialer Selbstreflexion gleichermaßen avancieren. Die besonderen Möglichkeiten dieses Schreibens scheinen dabei in der Fokussierung einer dynamischen Sinnbildung zu liegen, die den Absolutheitsanspruch sowohl der poetischen Rede als auch des durch diese Rede konstituierten Subjekts dementiert und damit die zeichenhafte Repräsentation des Realen einer metapoetischen Brechung unterzieht.
Anliegen der Sektion ist die Rekonstruktion und adäquate Beschreibung solcher Bezugnahmen in der spanischsprachigen Lyrik des 20. und des 21. Jahrhunderts. Ein besonderer Fokus gilt Lateinamerika. Sowohl übergreifende historisch-systematische Untersuchungen als auch Einzelanalysen sind willkommen. Selbstverständlich werden auch Gründungsmomente des literarischen Diskurses bei San Juan und Santa Teresa Gegenstand der Sektionsarbeit sein.
Themenschwerpunkte könnten beispielsweise sein:
- Poetik des mystischen Schreibens; mystisches Schreiben als Paradigma ästhetischer Negativität; textuelle Verfahren mystischen Schreibens
- Semiotik des mystischen Schreibens; ‚mystische’ Subjektivität, ‚ekstatisches’ Schreiben (J. Derrida, La différance; G. Bataille, L’erotisme; B. Teuber, Sacrificium litterae)
- Mediale Aspekte: Schrift- und Körperinszenierungen mystischen Schreibens (M. de Certeau, La fable mystique).