Michael Titzmanns Arbeiten haben den Strukturalismus in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren mitbegründet. Seine wegweisende „Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation“ aus dem Jahr 1977 ist einer der Ausgangspunkte einer modernen literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, die auf dem Fundament wissenschaftstheoretischer Normen wie Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit den Weg für alle diejenigen Humanwissenschaften bereitet hat, die sich heute unter dem Label Kulturwissenschaften der Erforschung der Vernetzung von Texten mit Diskursen, kulturellem Wissen, sozialen und kulturellen Praktiken und Mentalitäten widmen.
1944 in Jena geboren absolvierte Michael Titzmann nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1957 sein Abitur 1964 in Augsburg und nahm zum WS 1964/65 ein Magisterstudium der Germanistik und Romanistik an der LMU in München, insbesondere bei Hugo Kuhn (Mediävistik), Walter Müller-Seidel (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) und Alfred Noyer-Weidner (Romanistik) auf, das er nach Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes im Sommersemester 1968 im Jahr 1970 mit Auszeichnung abgeschlossen hat. Nach der Promotion 1972 mit einer Arbeit zu „Symbol“ und „Realismus“ in der Literatur des deutschen Realismus war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Akademischer Rat a.Z. am Institut für Deutsche Philologie der LMU. Nach der Habilitation 1982 für das Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte und der Erweiterung der Denomination 1983 um das Fach Allgemeine Literaturwissenschaft übernahm Michael Titzmann 1985 eine Professur für Neuere Deutsche Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Literaturtheorie an der Universität Passau, die er bis zu seiner Emeritierung im März 2009 ausgefüllt hat.
Seine Arbeitsschwerpunkte umfassten das deutsche und lateinische Drama des 16. & 17. Jahrhunderts, die erzählende Literatur und die Denksysteme der Goethezeit im 18., die Literatur des Realismus im 19. und das Drama der Frühen Moderne im frühen 20. Jahrhundert. Mit seinen Arbeiten zur Rekonstruktion epochentypischer Literatursysteme und ihrer Interpretation als Dokumente eines historisch fremden Denkens und Fühlens und seinen Analysen der Bedingungen des literatur- und denkgeschichtlichen Wandels in Kulturen prägte er zahlreiche akademische Wegbegleiter*innen und Schüler*innen.
Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. und von 1988 bis 1990 und von 1991 bis 1993 auch als Vorstand und Vorsitzender der DGS organsierte er 1990 erfolgreich den von der DFG geförderten 6. Internationalen Kongress der DGS an der Universität Passau „Zeichen(theorie) in der Praxis“. In zahlreichen Kolloquien und Projekten (u.a. das DFG-Projekt „Der Wandel der Konzeption der Person und ihrer Psyche in der deutschen Erzählliteratur von der Goethezeit zum Realismus“ 1994-1996) wurde er zum ‚spiritus rector‘ der deutschen Literatursemiotik.
Seine Studierenden, wissenschaftlichen Mitarbeitenden und Kolleg*innen und Freund*innen haben von seinem enzyklopädischen Wissen und seinem scharfen Verstand profitiert. Seine Vorlesungen und Vorträge beeindruckten durch ihre klaren und präzisen Analysen, die systematische und stringente Argumentation und die elaborierte Ausführung. Sie prägten das Denken zahlreicher Generationen Passauer Studierender und seiner akademischen Schüler*innen bis heute.
Zusammen mit dem Dichter Paul Wühr praktizierte Michael Titzmann seit 1989 die Verbindung von Literatur und Literaturwissenschaft in mehreren Kolloquien in Passignano sul Trasimeno. Er gehörte somit auch zu den wissenschaftlichen Mentoren der Paul Wühr-Gesellschaft, die 2007 gegründet wurde.
Die Pandemie riss ihn am 01. Februar 2021 mitten aus einem reichen und erfüllten Forscherleben, das aktuell mehreren Überblicksartikeln gewidmet war, u.a. zur Anthropologie in der Literatur des Realismus, und mit viel beachteten Aufsätzen zur Empirie und zur Epochenkonzeption in der Literaturwissenschaft bis zum Schluss ihrer Theoriebildung und Methodologie gegolten hat.
Die Passauer Literaturwissenschaft und die deutsche Germanistik verlieren mit Michael Titzmann einen herausragenden Wissenschaftler und einen ihrer Wegbereiter in die Gegenwart.
Unser Profil in Forschung und Lehre
Das besondere Alleinstellungsmerkmal der Passauer Literatur- und Medienwissenschaft ist ihre semiotische, d. h. zeichentheoretische Ausrichtung. Auf der Basis des gemeinsamen semiotischen Paradigmas befähigt die Passauer Literatur- und Medienwissenschaft ihre Studierenden damit erstens zu einer medien- und textsortenspezifischen Literatur- und Medienwissenschaft, die zentrale Kompetenzen bei der Analyse konkreter Textsemantiken in Literatur, Film, Fernsehen, Musikvideos, Opern, Werbung, Computerspielen und neuen Medien vermittelt. Zweitens erlaubt der Passauer medien- und literatursemiotische Ansatz medienübergreifend kultursemiotische Verknüpfungen.
Gerade in den Medien erbringen Gesellschaften immer wieder im historischen Wandel einen genuinen Beitrag zu ihrem eigenen Selbstverständnis. Es sind die Medien und damit die sie formierenden Texte, die kulturelle Komplexität sinnhaft reduzieren und zu historisch typischen Modellen von Welt verdichten und in sich epochentypisch abbilden können. Ein Gedicht, ein Drama, ein Roman, aber auch ein Film, ein Musikvideo, eine Fernsehshow, eine Oper oder ein Computerspiel bedienen sich je nach den an ihnen beteiligten Informationskanälen verschiedener primärer sprachlicher, schriftlicher, visueller oder auditiver Zeichensysteme.
Die Passauer Literatur- und Mediensemiotik beschäftigt sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive an historischen Beispielen, die erstens im Falle des deutschen Kulturraumes die deutschsprachige Literatur vom Barock bis zur Gegenwart in ihrer Abhängigkeit zu kultur- und denkgeschichtlichen Kontexten in den Mittelpunkt rückt. Außerdem bezieht sie zweitens im Falle von Film, Fernsehen und neuen Medien für den deutschen und den europäischen Kulturraum relevante Phänomene und Formate der internationalen und deutschen Mediengeschichte in der Hoch- und Populärkultur in das Fach mit ein.
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