Digitale Kulturwissenschaftliche Exegese
Digitale Kulturwissenschaftliche Exegese verbindet eine innovative Hermeneutik mit digitaler Verarbeitung und Präsentationstechniken und kann so deutlich größere Datenmengen („big data“) bearbeiten, aufbereiten und darstellen als herkömmliche Verfahren in der Bibelwissenschaft. Das Innovationspotential liegt damit sowohl in der Art und Weise der bibelwissenschaftlichen Arbeit als auch in der Präsentation ihrer Ergebnisse.
Der kulturwissenschaftliche Zugang stellt eine neue Perspektive auf das frühe Christentum bereit. Durch den Fokus auf kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie lässt sich mit Modellen für die sozialen Interaktionsprozesse frühchristlicher Gruppen arbeiten, die es ermöglichen, Hypothesen für die Veränderung kollektiver Gedächtnisse und damit einhergehende Medienwechsel zu formulieren und anhand des Materials (neutestamentliche und frühchristliche Texte und Manuskriptfunde) zu prüfen. Dadurch wird das frühe Christentum als heterogene Bewegung sichtbar, die auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität eine Vielzahl von sozialen Aushandlungsprozessen durchlaufen hat, die nicht mit anachronistischen Kategorien wie „orthodox“ und „häretisch“ beschrieben werden können. Traditionelle bibelwissenschaftliche Zugänge sind dagegen historisch orientiert und arbeiten eher mit Einzeldaten als mit Modellen. Der Einsatz computerunterstützter „digitaler“ Exegese ermöglicht, es weit größere Datenbestände als bislang üblich auf unterschiedliche Fragestellungen hin auszuwerten. Der Einsatz digitaler Datenverarbeitung in Form von neuen und eigens für diesen Zweck programmierten Datenbanken, durch die das Material anders verschlagwortet wird und zusätzliche Charakteristika wie Fundorte, Entstehungsorte, oder Entstehungszeiten mitberücksichtigt werden, erlaubt daher einerseits einen anderen Zugriff auf die vorhandenen Daten, und erlaubt durch digitale Animation andererseits auch andere Präsentationsformate vom Digital Humanities Graph bis zum Video.
Digitale Kulturwissenschaftliche Exegese arbeitet interdisziplinär und international. Sie nutzt den Austausch und die Expertise anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um neue Perspektiven und Fragestellungen zu generieren und zu erforschen. Dazu ist es nötig, inspirierende Räume zum gemeinsamen Denken und eine Infrastruktur bereitzustellen, in der neue Ideen und Modelle anhand des Datenmaterials (neutestamentliche und frühchristliche Texte) erforscht und geprüft werden können. Langfristig wird es so möglich, nicht nur für die Bibelwissenschaft, sondern auch für kulturwissenschaftlich interessierte Nachbarwissenschaften neue Frage- und Forschungsansätze zu generieren.
Als Testcase für Digitale Kulturwissenschaftliche Exegese wird am Lehrstuhl für Exegese und Biblische Theologie das Projekt Isaiah in the First Three Centuries durchgeführt, dass die beiden Dimensionen innovative Hermeneutik und digitale Verarbeitung und Präsentation verzahnt.
Der Prototyp einer Datenbank die aus bereits vorhandenen Datenbeständen exemplarisch für die Rezeption des Jesajabuchs programmiert wurde, sammelt unterschiedliche Informationen zu neutestamentlichen und frühchristlichen Texten der ersten 3 Jahrhunderte und erschließt sie neu. Dadurch können größere Datenmengen gezielt ausgewertet werden, um Hypothesen für unterschiedliche Szenarien für frühchristliche Identitätsbildung auf der Basis kulturwissenschaftlicher Modelle zu überprüfen.
Der Prototyp der Datenbank findet sich auf der Unterseiten "Jesaja". Eine Einführung in die zugrundeliegenden Fragestellungen ist in kompakter Form als Video zugänglich (https://vimeo.com/423170755/d3c2f79ad0) und in diesem Beitrag verschriftlicht:
Huebenthal, Sandra: What’s Form got to do with it? Preliminaries on the Impact of Social Memory Theory for the Study of Biblical Intertextuality. In: David P. Moessner, Matthew Calhoun, and Tobias Nicklas (Hrsg.), The Gospel and Ancient Literary Criticism: Continuing the Debate on Gospel Genre(s). WUNT 2. Tübingen 2020, 145-176.